Das Kind auf der anderen Seite am Zaun

Ich sehe dich vor meinem inneren Auge.

Wie deine kleinen Hände sich an die Gitter klammern.

Die Gräser um dich herum, 

größer gewachsen, als du.

Wie dein Gesicht die Spuren deiner Tränen trägt –

gerötet, verquollen,

mit wässrigen Augen, die sprechen.


 

Ich erkenne deine Sehnsucht,

deine Hoffnung,

deine Trauer.


 

Du weinst –

mit Tönen, die kaum deinen Körper verlassen.

Als wolltest du gehört werden,

doch dein Atem verschluckt deine Worte.


 

Deine Lippen zittern.

Deine Haare sind verstrubbelt.

Dein Blick sucht mich.

Und ich sehe dich.

Du berührst mich.


 

Und doch kann ich dich nicht mein nennen.


 

Du willst etwas von mir.

Und ich weiß, was es ist.

Aber ich fühle es nicht.


 

Ich bin wie aus Glas.

Ein dickes, durchsichtiges Panzerglas umhüllt mich.

Es schützt mich – nicht dich.


 

Ich spüre nur:

Ich will dich nicht.

Ich will, dass du gehst.


 

Ein Lächeln für dich wäre zu viel.

Eine Hand, die dich berührt –

ein Blick, der bleibt –

zu viel.


 

Geh, denke ich.

Geh, und nimm es an:

Du bist allein.

Es wird keinen Trost geben.

Niemand wird dich halten.


 

Akzeptiere es.


 

Und ich bin es auch nicht.


 

Ich lasse dich stehen.

Und etwas in mir zerreißt.

Doch das Gefühl ist ummantelt –

trennt mich von dir,

und dich von mir.


 

Ich gehe.

Mit dem Rücken zu dir.

Ohne Blick.


 

Und manchmal,

in stillen Momenten,

sehe ich dich wieder.

Wie ein Standbild.

Ohne Bewegung.

Ohne Atem.


 

Aber dann –

irgendwann –

versuche ich es.


 

Ich werfe dir einen Teddy über den Zaun.

Schaue dich dabei nicht an.

Tue es kraftvoll.

Nicht liebevoll –

aber entschlossen.


 

Ich gebe dir etwas.

Abgetrennt von mir.

Weil ich weiß:

Du brauchst es.


 

Und während ich gehe,

drehe ich mich nicht um.

Doch etwas in mir wird weich.


 

Ich werde mutiger.

Wenn das Bild wiederkehrt,

öffnet sich etwas in mir –

ganz leise.


 

Ich traue mich nicht, es zu benennen.

Das wäre zu viel.

Aber ich darf es fühlen.


 

Ich reiche dir den Teddy.

Sehe dich an.

Und sehe,

wie sich der Krampf in deinem Gesicht löst.

Wie du erleichtert bist.


 

Ein kleines Lächeln.

Zaghaft.

Echt.

Und es erreicht mich.


 

Dann verschwindet der Zaun.


 

Ich spüre:

Ich kann dich in den Arm nehmen.

Drücke dich fest an mich.

Halte dich.


 

Eine Wärme in mir.

Dein Körper wird weich.

Dein Atem ruhiger.

Dein Herz wird still.


 

Jetzt möchtest du spielen.

Und du darfst gehen –

mit deinen leuchtenden Augen.


 

Und ich bleibe.

In mir mit dir.

An diesem Ort.

Ohne Zaun.


 

Bindungstrauma: 
Von der Berührung inmitten von Schutz und Schmerz – 
wenn innere Anteile sichtbar werden

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